Die spirituelle Dimension des Freitauchens

Wer kennt ihn nicht, den Spruch: „Ein Gerätetaucher taucht, um sich die Unterwasserwelt anzuschauen – ein Apnoetaucher taucht in sich hinein.“ Ganz offensichtlich geht man hier davon aus, dass sich ein Apnoetaucher während des Tauchganges vollständig mit sich selbst beschäftigt. Er ist konzentriert, er ist fokussiert. Ein Apnoe–Tieftaucher beginnt seine Vorbereitungen bereits vor dem Tauchgang. Er zieht sich zurück, widmet sich der Dehnung bestimmter Muskelgruppen, der Atemmuskulatur, dem Atem selbst. Er meditiert, bedient sich des autogenen Trainings und bereitet sich mental darauf vor, in eine völlig andere Welt einzutauchen, in der die physikalischen Gesetze den Freitaucher zwingen, sich diesen anzupassen. Hierzu geht der Apnoetaucher seinen Tauchgang im ‚Geiste‘ durch. Das, was dem Apnoetaucher in der Tiefe widerfährt, und wie der Apnoetaucher auf die Bedingungen regieren muss, kann man durchaus mit der Bedeutung des Begriffes ‚Transformation‘ gleichsetzen. Nun stellt sich die Frage, ob all diese eben genannten Prozesse ausreichen, um hier von Spiritualität zu sprechen? Jeder versteht unter diesem Begriff vielleicht etwas anderes, weswegen wir zunächst einmal schauen, was die offiziellen Quellen hierzu anzubieten haben über Spiritualität und Freitauchen.

Spiritualität – die Definition

Das Wort Spiritualität kommt aus dem Lateinischen ‚spiritus‘, was mit Geist, oder ‚Hauch‘ übersetzt werden kann, bzw. ‚spiro‘, was mit ‚ich atme‘ übersetzt wird. Folgt man Wikipedia, findet man eine weitere Erklärung, wonach Spiritualität die Suche, die Hinwendung, die unmittelbare Anschauung, oder das subjektive Erleben einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt.

Spiritualität – die Deutung

Angesicht der Einleitung und der Definition von Spiritualität sollte klar sein, dass die gewissenhafte und achtsame Ausführung des Apnoesport durchaus etwas mit Spiritualität zu tun hat. Davon abgesehen legen Apnoetaucher durchaus einen gewissen Wert darauf festzustellen, dass ihr Sport von mentaler Natur ist. In jedem statischen Training kommen die Freitaucher früher oder später zu der Einsicht, dass es nur um die mentale Beruhigung geht. Ein ‚mentaler Zustand‘ bezeichnet eine Zustandsform des Geistes einer Person. Mentale Zustände umfassen eine vielfältige Klasse, einschließlich Wahrnehmung, Schmerzerfahrung, Glaube, Absicht, Emotion und Gedächtnis. Schauen wir doch mal, ob das alles mit dem Apnoetaucher in Einklang zu bringen ist.

Mentalsport Apnoetauchen

Wirklich gute und disziplinierte Apnoetaucher erleben ihren Atem nicht nur als etwas Notwendiges, sondern auch als etwas Heilendes. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die Atemtechniken aus dem Pranayama – Yoga kommen. Und Yoga ist nun mal eine Heilkunst und Gesundheitswissenschaft. ‚Prana‘ bedeutet übrigens ‚Hauch, Atem, Lebensenergie‘, und entspricht dem chinesischen ‚Chi‘, oder dem japanischen ‚Ki‘. Pranayama ist im achtstufigen Pfad des ‚Ashtanga Yoga‘ die vierte Stufe. Yogalehrer, Atemtherapeuten und Mentaltherapeuten verwenden diese Techniken als Vorbereitung zur Meditation, und dazu, Themen aus der Vergangenheit, wie posttraumatische Belastungsstörungen zu bearbeiten. Die dritte Stufe im ‚Ashtanga Yoga‘ ist ‚Asanas‘. Das ist die Körperarbeit mit ihren Stellungen, Haltungen und Bewegungen. Auch das wird von Apnoetauchern praktiziert. Sich auf Yoga, Meditation, autogenes Training ect. einzulassen, bedeutet Gesundheit durch gesunden und klaren Geist, innere Ruhe, und Ausgeglichenheit zu erfahren. Dadurch entsteht die Möglichkeit, sich zu konzentrieren und zu fokussieren. Konzentration ist in dem achtstufigen ‚Ashtanga Yoga‘ die Stufe sechs, ‚Dharana‘, gefolgt von der siebten Stufe ‚Dhyana‘, was ‚Meditation‘ bedeutet. Es ist eine unumkehrbare Erkenntnis, dass der Organismus dem Geist folgt und nicht umgekehrt. Viele Athleten, darunter William Trubridge, Carlos Coste, Umberto Pelizzari, haben diesen Weg gewählt. Pranayama wurde also nicht erfunden, um tief zu tauchen, sondern um gesund zu werden, zu bleiben und transformative Erfahrungen zu machen, indem sie sich tagtäglich dieser Praxis widmen. Doch wohin führt Transformation?

Transformation – Die Bedeutung

Transformation bedeutet Übergang, Wechsel, Umformung. Als spirituelle Transformation könnte man den Übergang von einer Bewusstseinsstufe zu einer höheren bezeichnen. Da stellt sich gleich die Frage, ob es die spirituelle Transformation überhaupt gibt? Nun, wenn es sie nicht gäbe, welchen Sinn hätte dann das Leben? Jeder Mensch trägt von Geburt an eine intrinsische Motivation, sich zu entfalten, entwickeln und zu forschen. Sind dieser Motivation keine Grenzen gesetzt, kommt früher oder später die Beschäftigung mit dem ‚Sinn des Lebens‘. Und dabei ist nicht die religiöse Spiritualität gemeint. Der legendäre Freediver und 15 – fache Weltrekordtaucher Umberto Pelizzari sagte in einem Interview zu der Film– Dokumentation ‚Ocean Men – Kampf in der Tiefe‘ zu seinen Tauchgängen: „Mein Körper transformiert sich komplett“. Jetzt muss man wissen, dass ‚Pelo‘, so wie er von seinen Freunden genannt wurde, sowohl 80m in CWT, und 150m in NLT getaucht ist. Bei diesen Tauchgängen erlebt ein Apnoetaucher eine drastische Bradykardie (Herzfrequenz – Senkung), extremen Bloodshift (bis zu 1,4 Liter), und ein Zusammenfallen der Lunge bis über das Residualvolumen hinaus. Das zelluläre Gedächtnis in Lunge, Zwerchfell, Herz und Gehirn wird durch dieses extreme Erlebnis aktiviert, und es entsteht im besten Fall das Gefühl, nicht mehr atmen zu müssen. Es herrscht totale Ruhe und Frieden. Ein Zustand, den man sonst nur durch eine erfolgreiche Meditation erreicht. Der dreifache Weltrekordtaucher Benjamin Franz sagte einmal: „Wenn ich in 100m Tiefe eine Tiefengewöhnung vornehme, habe ich das Gefühl, nicht mehr auftauchen zu wollen!“ Dabei blieb er bis knapp 5 Minuten in dieser Tiefe. Der Körper, aber auch der Geist passen sich ganz den neuen Gegebenheiten an. Spiritualität und Freitauchen. Die Dimension der Tiefe lässt das Leben dort oben vollständig zurück.

Mensch und Wasser – eine Symbiose

9 Monate wächst der Mensch im Fruchtwasser der Gebärmutter auf. Das Meerwasser ist mit dem Fruchtwasser nahezu identisch. Das Internet ist voll von Bildern, auf welchen Säuglinge mit offenen Augen tauchen. Sie halten die Luft an. Daher ist es auch verständlich, dass Wassergeburten eigentlich die natürlichste Form der Geburten sind. Der Mensch besteht zu 75% – 90% aus Wasser. Dass Wasser ein Informationsträger ist, ist bereits eine wissenschaftlich anerkannte These. Es ist daher wenig verwunderlich, dass wir mit Wasser resonieren. Wie sonst lässt es sich erklären, dass das Meer der beliebteste Urlaubsort der Menschen ist. Ca. 340 Mio Menschen pilgern jährlich ans Meer. Das Meer vermittelt uns Freiheit, Leichtigkeit, und hilft uns, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Wir atmen tief durch, genießen das Rauschen und werden gesund. Die Wellen des Meeres erinnern uns an den Rhythmus des Lebens. Ein Lebensrhythmus, den wir bereits vorgeburtlich mitbekommen haben. Es ist der Lebensrhythmus der Mutter.

Die Erde – das mütterliche Prinzip

In nahezu Schulen, in welchem Spiritualität gelehrt wird, gilt die Erde als das weibliche, mütterliche Prinzip. Tatsächlich ist die Erde die ewig Gebärende. Ständig und überall wächst und gedeiht es. Die Erde ist die Hüterin des Lebens. Sie ist Versorgerin, Schöpferin, Lebensspenderin, wie eine riesige Gebärmutter. Das wäre sie allerdings nicht, wenn es die Meere nicht gäbe. Das Meer ist der Urquell allen Lebens und wenn wir uns von seinen Wellen trage lassen und sogar schnorcheln, sind wir unserer eigenen Schöpfung extrem nahe. Unsere Zellen reagieren und erinnern sich. Die Geborgenheit spendende und umsorgende Urmutter lädt uns förmlich ein, in sie hinein zu tauchen. Je tiefer wir tauchen, desto weiter zurück tauchen wir zu unserem Ursprung. Das klingt zunächst verlockend. Doch genau hier liegt die Gefahr einer Regression, dem Zurückfallen in einen Zustand, ähnlich dem eines Kleinkindes, in welchem die Athleten einfach das Wohlgefühl aus dieser Zeit wiedergefunden zu haben scheinen. Gottseidank ist auf diesem Wege noch niemand freiwillig untern geblieben. Allerdings sollten uns die Rekordjagden einiger weniger Athleten mit ungünstigem Ausgang zu denken geben. Das Unterbewusstsein hat hier einige Überraschungen parat, wenn man in der Psychoanalyse den in der griechischen Mythologie bekannten ‚Thanatos‘ (Gott der Toten, und die daraus ableitende Todessehnsucht) als Teil des Unterbewussten analysiert. Doch existiert auch hier, wieder einmal der Gegensatz. Der als das ‚Streben‘ definierte ‚Eros‘, ist die Kraft, die uns immer wieder ins Leben zurückbringt. Zurück an die Wasseroberfläche.

Rebirthing – der erste Atemzug

Das ‚Rebirthing‘ (zirkuläres Atmen) im therapeutischen Sinne ist hier nicht gemeint. Wohl aber die Wirkung eines ersten Atemzuges nach einem tiefen Tauchgang. Sollte ein Tauchgang in eine größere Tiefe von ungefähr 50m, und darüber hinaus, erfolgt sein, ist am tiefsten Punkt der gesamte Organismus heruntergefahren. Alles läuft in Zeitlupe ab. Das Gehirn ist, dank des hohen Partialdruckes Sauerstoff (O2), voll versorgt, und der Athlet fühlt sich ebenso voll versorgt. Sofern der Tauchgang keine Kraft gekostet hat, befindet sich der Organismus im Glückszustand. ‚Kein Grund aufzutauchen, es ist doch so faszinierend schön‘. Nur die Stickstoffnarkose könnte noch ein Problem darstellen. Doch auch hier haben ausreichend Trainingstauchgänge hoffentlich für die nötige Toleranz gesorgt. Nun beginnt der Aufstieg. Es ist ein langer Weg zurück an die Oberfläche. Die Lunge beginnt sich wieder zu entfalten, der Partialdruck sinkt, der Atemreiz kündigt sich an. Dann kommt endlich der lang ersehnte Durchbruch durch die Wasseroberfläche, und der erste Atemzug bricht sich Bahn. Der Organismus braucht noch etwas Zeit, um sich wiederherzustellen, und es muss weiter geatmet werden. Der Athlet steht unter genauer Beobachtung. Es ist wie die Rückkehr ins Leben, begleitet von einem hormonellen Stimulus (Endorphine), der eine unbändige Freude mit sich bringt.

Die Schöpfung

Freediver, die auf ihrem Weg zum Apnoetauchen zum Yoga gekommen sind, und seine Philosophie als ganzheitliche Schöpfungsgeschichte erfahren haben, verfügen oft über ein höheres Bewusstsein, da sie sich als ein Teil des Ganzen sehen. Ihre Lebensart ist geprägt von Demut und Achtsamkeit gegenüber der Schöpfung, also auch sich selbst gegenüber. Die wohl größte Leitfigur des Apnoetauchens, die das Freitauchen und den Yoga als ein homogenes Zusammenspiel präsentierte, war Jaques Mayol. Er war ein Yogi, und der beste Freitaucher seiner Zeit. Er war ein Wanderer zwischen den Kulturen, wuchs auf in Hanoi und Griechenland, und starb in Italien. Er sprach mehrere Sprachen und war sehr gebildet. Möge sein Erbe weiterleben.

Apnoetauchen als Therapie

Während Apnoetaucher das tiefe Wasser für ihr Glück brauchen, gibt es Menschen, die in der Nähe von Wasser bereits Ängste verspüren. Manchmal bekommen Kursteilnehmer beim ersten Mal Luftanhalten im Wasser nervöse bis panische Zustände. Welche Rolle spielt dabei Spiritualität? Es handelt sich hier um Angststörungen, die das Fundament des Lebens stark in Mitleidenschaft gezogen haben: Das Urvertrauen! Da alles Leben, auch wir Menschen, aus dem Wasser kommt, und uns somit dieses Element Wasser vertraut sein sollte, herrscht in diesem Fall eine absolute Bedrohung.   Durch die Trauma – Forschung wissen wir allerdings: Es handelt sich um eben jene zelluläre Erinnerung, die durch den Kontakt mit Wasser und durch das Luftanhalten verstärkt wird. Zum besseren Verständnis: Zellen speichern ihre Informationen in der Zellmembran. Die Kommunikation der Zellen findet über sogenannte ‚Gap – Junctions‘ statt. Kanäle, welche die Zellen verbinden. Normalerweise reagiert der Körper beim Tauchen mit dem Tauchreflex (human dive response). Der Organismus kommt zur Ruhe. Je nach Biografie kann aber auch das Vergessene, das Verdrängte und Ignorierte an die Oberfläche kommen und Ängste auslösen. Meist sind dies nicht integrierte, nicht verabschiedete, ungünstige Erfahrungen, die mit Wasser in Verbindung stehen.  Solche Prozesse müssen nicht sein. Therapeutisch geschulte Apnoetaucher sind durchaus in der Lage mit solchen Prozessen umzugehen. Eine behutsame Herangehensweise und ausreichende Hilfestellungen und Schutz bei Angststörungen sind durchaus anwendbar und können sehr schnell zum Erfolg führen und das Urvertrauen wiederherstellen. Somit steht dem taucherischen und schwimmerischen Vergnügen anschließend nichts mehr im Wege.

Der Mensch und das Meer

Wir Menschen verfügen, ähnlich der Meeressäugern, über einen HDR (human dive response), als eine menschliche Tauchantwort. Allein dieser Umstand macht uns zu einem Teil des Meeres. Egal wo wir leben. Solange wir das Meer und seine Bewohner als etwas Göttliches ansehen, werde wir dieses Terrain schütze und ehren. Nur noch wenige Stämme leben am Meer und vom Meer. Sie haben uns die Tradition des Freitauchens überliefert. Sowohl das Schöne, als auch die Gefahren. Es liegt an uns, dieses Erbe unseren Kindern mitzugeben, und ihnen beizubringen, dass das Erlebnis in der Tiefe eine ganze Weltsicht beeinflussen kann, dass viel Weisheit und Gesundheit im Leben mit dem Meer herrscht. So lange das Meer lebt, solange gibt es Wetter. Wer das Meer tötet, der tötet das ganze Leben. Bewahren wir also unseren Lebensquell!    

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